Sich die Welt erschreiben
Ein großartiger Beitrag von Miriam Meckel zum Thema „von Hand schreiben“. Herzlichen Dank für Miriam Meckels Einverständnis, den Artikel zu veröffentlichen.
Als ich neulich im Keller meines Vaters nach etwas suchte, machte ich eine Entdeckung, die mich berührt hat. Auf den Stahlregalen, zwischen den Vorräten, Werkzeugen und Kartons, klemmte eine Keksdose. Und auf ihr klebte ein Etikett, das meine Mutter einst per Hand beschriftet hat. ‚Vanillekipferl’ steht darauf. Als ich dieses Wort las, kamen mir die Tränen.
In den Bögen, die von einem geraden, symmetrischen V über das a, n und i in die beiden geschwungenen ls führen, erkannte ich ebenso die Schrift meiner Mutter wie in dem klassischen handschriftlichen k, dem fein geführten f und dem r, das immer ein wenig nach rechts verrutschte, und dabei einen wunderbaren Extrabogen schlug, bevor es in den letzten Buchstaben des Wortes überging. Meine Mutter lebt schon einige Jahre nicht mehr. Dieses kleine handschriftliche Klebeetikett ist geblieben.
Schreiben lernen als Lebenserfahrung
Ich habe als Kind meiner Mutter immer gerne beim Schreiben zugeschaut. Nicht nur, um mir abzugucken, wie man richtig schreibt. Es war vielmehr ein warmes, nahes Gefühl, das im Moment des Schreibens entstand. Ein Augenblick der Teilhabe, der persönlichen Verbundenheit, als dürfe ich etwas sehr Privates, Inneres beobachten und würde dadurch Teil davon. Ich habe oft neben meiner Mutter am Tisch gesessen, und wir haben geschrieben. Manchmal einfach in ein Kreuzworträtsel hinein, zu dem ich als kleines Kind immer „Kreuzverdrehtsel“ sagte, um das Wort erneut üben, also schreiben zu müssen, nein, zu dürfen.
Das Schreiben mit der Hand habe ich in der Grundschule gelernt, mit Hilfe von Schreibheften, in denen die Linien noch dreigeteilt waren. Damit wurde es leichter, die Bögen des f, des g oder des h in der richtigen Proportion auszuführen.
Ich erinnere mich noch daran, wie mühsam es anfangs war, den Stift zu führen, mit allen Krakeln und Kleksen, die dazugehörten. Als ein Füller zum ersten Mal ins Spiel kam, war er nicht ohne Tintenkiller zu denken, mit dem man misslungene Bögen oder Ausreißer an den Enden der ts und fs korrigieren konnte. Und jeden Mittag kam ich mit blauen Händen, oft auch mit blauen Flecken auf T-Shirt und Hose nach Hause.
Schreiben Lernen war ein mühsamer Prozess, und ich habe es tatsächlich geschafft, in der Grundschule die einzige ungenügende Bewertung zu bekommen – in Handschrift. Auch heute kriegen Freunde und Mitarbeiter die Krise, wenn sie handschriftliche Notizen von mir bekommen, schnell dahin geworfen und meist unleserlich. Aber sie wissen immer sofort, von wem die Mitteilung kommt.
Schreiben Lernen ist auch ein lebenswichtiger Prozess. Nur als Alphabeten sind wir in der Lage, in allem an Welt und Leben teilzunehmen. Es könnte etwas bedeuten, dass wir uns diese Fähigkeit mit unseren Fingern aneignen, sie uns Zug um Zug erarbeiten müssen. Und dass die Spuren dieses mühsamen sich in die Welt Einschreibens für immer in unserer individuellen Handschrift angelegt sind.
Inzwischen experimentieren viele Grundschulen in Deutschland mit der „Grundschrift“, die sich an die Druckbuchstaben anlehnt und den Kindern das Schreiben Lernen einfacher machen soll. Der Grundschulverband betont, es gehe nicht darum, die Schreibschrift wegzulassen, sondern man wolle den Kindern das Schreiben und den anderen das Lesen des Geschriebenen erleichtern. Das ist ein logischer Ansatz, aber er wird die Handschrift als Ausdruck des Einzelnen verändern.
Futura: die Schrift wird standardisiert
Müssen wir darüber in Zeiten der Computerschrift überhaupt noch streiten? Hat die Handschrift nicht längst ihre Rolle und Bedeutung weitgehend eingebüßt? Ich gebe freimütig zu: Auch ich schreibe inzwischen weniger und weniger mit der Hand. Das liegt zum einen daran, dass es eine Zeit in meinem Leben gab, in der mit das Schreiben ein wenig verleidet wurde. Ich war damals in der Politik, als Staatssekretärin in der Düsseldorfer Staatskanzlei, und mein Schreiben mit der Hand wurde im Wesentlichen auf den Akt des „Mitzeichnens“ reduziert. Für alles andere war keine Zeit und Muße. Das „Mitzeichnen“ klingt fast künstlerisch, ist aber ein Verwaltungsvorgang, der vorsieht, dass man eine Akte in der „Mitzeichnungsleiste“ mit seinem Kürzel abzeichnet, immer in einer speziellen Farbe (in NRW war das für die Staatssekretäre grün), und immer in dem Kästchen, das für das jeweilige Ministerium vorgesehen ist. Die „Mitzeichnung“ war für mich gleichbedeutend für die Bürokratisierung und Entzauberung des Schreibens. Und ich habe später die Handschrift mühsam wieder für mich neu entdecken und beleben müssen.
Der andere, wichtigere Grund liegt in der Rolle, die der Computer inzwischen in meinem Leben einnimmt. Auch ich schreibe immer mehr mit einer echten oder virtuellen Tastatur, ins Laptop, auf dem iPad, mit dem iPhone. Selbst kleine Notizen, die am frühen Morgen oder späten Abend noch ihren Weg per Bleistift in ein kleines Notizheft finden, das an meinem Bett liegt, schreibe ich unterwegs mit dem iPhone in „Evernote“. Der Name sagt es: Dort werden sie digital abgelegt und doch gleichzeitig von mir in die „Cloud“ entlassen – die ewige Notiz, entpersönlicht und doch nie wieder vergessen.
Die Computerschrift ist standardisiert. Wir können unterschiedliche Schrifttypen auswählen, wir können sogar Schreibschrift maschinell imitieren. Damit ist das Arial der Individualisierung der Schrift am Computer aber auch schon erschöpft. Die meisten von uns sind heute ein Courir des Century, in dem der Computer das Schreiben übernommen hat, das heute Textverarbeitung heißt: Times Modern sozusagen im übertragenen Sinne. Die Futura gehört dem Computer, und ich bin nicht sicher, dass dies nur einen Impact auf die formale Dimension des Schreibens hat.
Schon längst gibt es daher Gegenbewegungen. Wenn ich heute jemanden wirklich erreichen will, dann schreibe ich einen Brief – per Hand. Nicht nur weil er beim Adressaten zwischen den hunderten von digitalen Mails und unnützen analogen Postwurfsendungen als Ausnahme der Regel schon einmal Aufmerksamkeit erzeugen wird. Auch weil ich neben den im eigentlich Brief enthaltenen Botschaften auch eine unausgesprochene übermittele: Du bist mir wichtig. Ich nehme mir die Zeit, mich hinzusetzen und wirklich darüber nachzudenken, was ich dir sagen möchte, und dann schreibe ich es mit der Hand auf. Mit Hilfe eines Füllers von Montblanc, der wunderbar schwer in der Hand liegt. Der Schreiben zu einer körperlichen und sinnlichen Erfahrung macht. Und der eine so breite Feder hat, dass selbst meine Krakelschrift zu einem Ensemble von Buchstabenbögen wird, die manche Empfänger schön finden.
Schreiben: Atemzüge des Körpers
Was also macht dieses Schreiben mit uns? Wenn ich einen Stift zur Hand nehme und zu schreiben beginne, lote ich meine Gedanken förmlich in allen drei Dimensionen des Raumes aus. Ich kann die Buchstaben nach oben oder unten in die Länge ziehen, die Schrift nach rechts oder links kippen lassen oder auch fest aufdrücken, bis das Papier reißt, um einem einzelnen Wort materiell Nachdruck zu verleihen. Dabei bringe ich etwas auf den Punkt – im direkten Sinne des Wortes. Der Stift berührt das Papier, und in diesem Moment ist der Anfang eines Buchstabens, eines Wortes, eines Gedankens gesetzt, um sich aus meiner Welt in die der anderen fortzusetzen.
Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff sagt, dass alles „was mittels eines Stifts in vermittelten Zügen niedergeschrieben wird, eine ungleich intensivere körperliche Spur legt, die sich im Gedächtnis einlagern kann, als Wörter und Sätze, die nur durch eine flüchtige Berührung der Tastatur entstehen“. Deshalb sprechen wir vom Schreiben als einer „Kulturtechnik“, die ebenso wie das Lesen Voraussetzung für viele andere Techniken und Fertigkeiten des Menschen ist. Davon erzählt auch das Wort „begreifen“ im Sinne von verstehen: Nur wer etwas physisch-materiell wirklich anfassen kann, ist auch in der Lage es zu erfassen. Vielleicht lässt sich dieser Zusammenhang des Anfassens als Erfassen mit den für das Schreiben abgewandelten Worten der amerikanischen Leseforscherin Maryanne Wolf erklären: Wir sind nicht nur, was wir schreiben. Wir sind auch, wie wir schreiben. Dabei geht es nicht um die irrwitzigen Annahmen der Graphologie, man könne die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen aus seiner Handschrift herauslesen. Es geht vielmehr um ganz konkrete Aktionen unseres Gehirns. Das verfügt nämlich bis ins hohe Alter über neuronale Plastizität, das heißt einzelne Nervenzellen oder ganze Hirnareale können sich immer wieder neu, anders, intensiver vernetzen.
Der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther hat beispielsweise nachgewiesen, dass jugendliche Powersimser einen messbaren Zuwachs der Hirnareale aufweisen, die den Daumen steuern. Ähnliches geschieht durch Klavierüben. Oder durchs Schreiben. Wenn wir Schreiben, erfassen wir also doppelt die Welt. In ihrer abstrakt-sprachlichen Bedeutung und dadurch, dass wir Spuren in unserem Gehirn anlegen, die seine Funktionsweise verändern können. Auf diesen Spuren wandeln wir dann weiter, und was immer wir tun, verändert den Lauf der Bahnen, die durch vorheriges Handeln angelegt sind. Der Hirnforscher Ernst Pöppel hat einst den Arbeitsrhythmus des menschlichen Gehirns untersucht und dabei entdeckt, dass unser Gehirn in Drei-Sekunden-Schritten arbeitet. Wenn diese drei Sekunden, wie Pöppel es sagt, der “Atemzug der Seele“ sind, dann sind die fortlaufenden Sequenzen eines handgeschriebenen Texts die Atemzüge des Körpers.
Und beide laufen parallel.
Schrift: Konturen des Lebens
Durch das Schreiben mit der Hand begreifen wir die Wirklichkeit. Wir zeichnen sie nach in ihren Lebenslinien und Konturen und bilden dabei unsere eigenen aus. Wir fahren die Weltkarte des Verstehens mit einem Stift ab und erobern uns verschiedener Sprachen Länder. Sicher, das ist die Welt der Worte als Signifikanten, die wir uns so erobern. Aber diese Reise gehört zum Erfahren und Erleben dazu wie auch die durch die wirkliche materielle Welt der Signifikate, über die wir dann wiederum schreiben können mit den Worten, die wir uns zuvor erobert haben. Etwas Besonderes geschieht, wenn wir einen handschriftlichen Text verfassen. Es ist die materielle Erschaffung von Sprache, und sie setzt eine bestimmte Reihenfolge voraus: erst denken, dann hinschreiben. Bei der Textverarbeitung am Computer kann, muss das aber nicht so sein. Copy und Paste, das Herumschieben ganzer Absätze, das Verarbeiten von Text ganz im schlechten und falsch interpretierten Sinne des Satzes von Heinrich von Kleist über die Verfertigung der Gedanken beim Sprechen, all das sind Möglichkeiten des Schreibens am Computer. Wenn ein Mensch einzelne Buchstaben lernt, so gelingt das viel besser durch Handschrift als durch das Tippen auf der Computertastatur. Das Lernen geht schneller, und es dauert viel länger, bis die Buchstaben oder Zeichen wieder vergessen werden. Neuere Forschung zeigt, dass dies für Erwachsene ebenso gilt wie für Kinder. Einen anderen spannenden Unterschied aber gibt es: Eine Studie zum kritischen Denken und Essayschreiben aus den USA zeigt, dass Mädchen und Jungs deutlich mehr schreiben, wenn der Computer im Spiel ist. Tucholsky lässt den Computer grüßen: Ich hatte leider keine Zeit, mich kurz zu fassen.
Während die Qualität des Geschriebenen aber bei den Mädchen mit Hand oder Computer nahezu gleich blieb, verbesserte sie sich die Jungen ganz wesentlich, wenn die Maschine ins Spiel kommt. Das wäre mal eine spannende These: Computer und Technik sind deshalb so oft von Männern gemacht, weil sie damit heimlich ihre Denk- und Schreibschwäche ausgleichen können.
Globalese: die Zeichen der digitalen Zeit
All das zeigt, dass Schreiben mit der Hand mehr ausmacht als einen Text. Doch bei allen guten Argumenten für das Schreiben mit Hand und Füller gibt es dennoch einige Aspekt in der Digitalisierung der Sprache, die uns das Leben leichter machen. Wir verstehen uns in Grundzügen längst auch über Sprachgrenzen hinweg, ohne die jeweils andere Sprache gelernt zu haben. Der Computer macht es möglich, weil er geholfen hat, Bestandteile aus verschiedenen Teilen der Welt zu einer neuen Sprache zu verbinden. Unter der Bezeichnung „Globalese“ hat sich eine Rudimentärsprache etabliert, die als Mischung aus englischer Grundsprache mit den einfachen Strukturen chinesischer Grammatik und einigen indischen Spracheinflüssen sowie Zeichen daherkommt. Der Anfang des alten Testaments lautet dann etwa so: „Number one, God make heaven and earth. Earth not very nice, nothing there. Also too dark. God make avatar go look-see waterfront. God say, Light on. Light on.“ Das ist nicht unbedingt literarisch schön, aber fast überall verständlich.
Heute können wir mit Hilfe von „Google Translator“ deutsche Texte in 65 Sprachen übersetzen lassen. Dabei entstehen zuweilen lustige Fehler. Und es ist eher eine passive Sprachkompetenz, die wir dadurch erlangen. Weil Englisch als Lingua Franca die einzige Fremdsprache ist, die man wirklich können muss, verändert sich die aktive Sprachkompetenz. Wir wissen auch hier aus der Forschung, dass Menschen weniger bereit sind, sich Dinge zu merken, wenn sie immer alles im Internet nachschauen können. Die aber, die wissen, dass sie nichts nachgucken können, merken sich viel mehr. Wenn das auch für Sprachen gilt, werden wir bald alle einsprachig. Alles andere ist ja im Netz.
Mit der wachsenden Digitalisierung unserer Kulturtechniken erleben wir etwas neu, das der Kommunikationsphilosoph Vilem Flusser schon 1978 in seinem Buch „Die kodifizierte Welt“ kritisiert hat. Damals ging es um das Bild, das neben den Text und dann vor den Text zu rücken drohte. Flusser sah im Bild die Oberfläche, die auf einen Blick erfasst wird und die komplexe Informationen synchronisiert. Ein Text, den wir lesen, erlaube uns hingegen die diachrone Verarbeitung der Information, und das sei ihrer Komplexität eher angemessen. Diese Kulturkritik Flussers, die zu Zeiten des „Pictorial Turn“, der wachsenden Bedeutung von Bildern in unserer Kultur, entstanden ist, lässt sich im Lichte der Digitalisierung neu deuten.
So lässt sich mit Hilfe des Computers ein individueller „Schreibabdruck“ eines jeden Menschen berechnen, mit Hilfe dessen weitere Texte desselben Individuums im Internet gesucht und erkannt werden können. Das gelingt vermutlich nur so lange, wie wir unsere Schriftsprache noch nicht vollständig in ein banales digitales „Globalese“ überführt haben, das sich nach Standards richtet, die auch dem Computer das Unterscheiden unmöglich machen.
So lange das nicht so ist, wird der datenbasierte „Schreibabdruck“ irgendwann als individualisierte Repräsentation des Schreibens in digitalen Zeiten die Handschrift ersetzen. Was ich dann auf der Keksdose im Keller meines Vaters statt des Aufklebers mit dem Wort „Vanillekipferl“ gefunden hätte? Ich weiß es nicht genau. Wahrscheinlich eine lange, einzigartige Reihe aus binären Zahlen: 01110110 01100001 01101110 01101001 01101100 01101100 01100101 01101011 01101001 01110000 01100110 01100101 01110010 01101100.